Die Geschichte des Kinder- und Jugendtheaters in Baden-Württemberg als eigenständiges Genre begann in den 70er Jahren zunächst an den drei Landesbühnen in Bruchsal, Esslingen und Tübingen. Zu den AG-Theatern der ersten Stunde gehören außerdem das Schnawwl Mannheim und das Freiburger Kinder- und Jugendtheater e.V., heute das Theater im Marienbad.
An der Württembergischen Landesbühne Esslingen hatte Achim Thorwald 1976 am Beginn seiner Intendanz mit Susanna Kartusch die ehemalige Dramaturgin des Dortmunder Kinder- und Jugendtheaters engagiert und damit ein deutliches Signal gesetzt für einen verstärkten Spielbetrieb für Kinder- und Jugendliche. Ebenso wie sein Bruchsaler Kollege Alf André wurde er schon bald im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst vorstellig, um eine verstärkte Förderung speziell des Kinder- und Jugendtheaters zu erreichen. Unterstützt wurden die beiden wenig später auch von Klaus Pierwoß, als er 1978 Intendant in Tübingen wurde.
Beim Land stießen sie dabei auf offene Ohren: vor allem beim zuständigen Ministerialdirigenten Dr. Dr. Hannes Rettich, der bis heute als politischer Vater des Kinder- und Jugendtheaters in Baden-Württemberg gilt. Aber auch beim Ministerpräsidenten Lothar Späth, der in Baden-Württemberg neben Mobilität und Innovation auch explizit Kreativität fördern wollte. Der Durchbruch gelang auf einer Landesverbandstagung des Deutschen Bühnenvereins 1978, dessen Vorsitzender Dr. Dr. Rettich war. Bei dieser Sitzung teilte das Mannheimer Nationaltheater mit, ein Kindertheater gründen zu wollen, das Schnawwl. Die Ereignisse überschlugen sich, am Ende der Sitzung versprach Dr. Dr. Rettich den drei Landesbühnen einen Zuschuss von insgesamt einer Million DM zum Aufbau eigenständiger Kinder- und Jugendtheater-Sparten. Zudem wurde den Kommunaltheatern angeboten, die anteilige Subvention des Landes auf das Kinder- und Jugendtheater auszudehnen für den Fall, dass sich die Städte dazu entschlössen, eigene Sparten oder Theater einzurichten.
Diese Entwicklung hin zum „Modell Baden-Württemberg“ kommentierte Dr. Dr. Rettich wenig später mit heute noch bemerkenswerten Worten: „Ich bin mir durchaus im Klaren, dass dies alles nur ein Anfang sein kann und auch in unserem Land noch viele Wünsche offen bleiben müssen. Aber wir meinen, dass in der Politik ein Trend erkennbar ist, wonach den kreativen Prozessen ein größerer Stellenwert als bisher eingeräumt wird und damit das Bemühen verbunden ist, unserer Jugend einen kulturellen Dialog anzubieten. In diesem Zusammenhang hat das Kinder- und Jugendtheater auch eine politische Chance.“
Sowohl in der Schwerpunktsetzung bei der theaterpädagogischen Arbeit als auch bei den Spielplanlinien und in den Organisationsstrukturen gab es in den Anfangsjahren viele Gemeinsamkeiten bei den Kinder- und Jugendtheatern der ersten Stunde. Gespielt wurden zum einen Stücke der drei damals führenden (West-)Berliner Theater Grips, Rote Grütze und Birne, zum anderen poetische Märchenstücke. Gemeinsam war allen Theatern aber auch der Versuch, sich in den festgefügten hierarchischen Strukturen der Stadt- und Landestheater Freiräume zu verschaffen und so das Besondere des Kinder- und Jugendtheaters zu betonen. Manfred Jahnke, als Journalist seit 30 Jahren kritischer Begleiter der baden-württembergischen Szene erinnert sich: „Gerade dieses Bewusstsein, andere künstlerische Organisationsstrukturen mit einer Ästhetik zu entwickeln, in der der Schauspieler zum Autor wird, prägt diese Gründungsphase, die sich damit sehr stark an den Organisations- und Produktionsmodellen der freien Gruppen orientierte.“
Zum eigentlichen Geburtsjahr der AG wurde dann das Jahr 1981. In diesem Jahr blieb das baden-württembergische Theatertreffen der Staats-, Stadt- und Landestheater in Tübingen ausschließlich dem Kinder- und Jugendtheater vorbehalten. Das Gastspiel-Programm wurde ergänzt durch zahlreiche Diskussionsveranstaltungen und Workshops, dazu eingeladen waren neben Theatermachern auch Kulturreferenten der Städte, um sie zu sensibilisieren für den Kunst-Charakter des Kindertheaters. Im Rahmen dieses Treffens wurde schließlich auch der Jugendtheaterpreis Baden-Württemberg, damals noch mit 12.500 DM jährlich dotiert, zum ersten Mal ausgelobt, um dem Wunsch der Theater und des Publikums nach spezifischen Jugendstücken gerecht zu werden. Und im gleichen Monat bezog das Schnawwl Mannheim, das schon 1979 unter der Leitung von Pavel Mikulastik seinen Spielbetrieb zunächst provisorisch aufgenommen hatte, mit der Alten Feuerwache einen eigenen Spielort.
Offiziell gegründet wurde die AG schließlich 1983 im Rahmen des baden-württembergischen Theatertreffens in Esslingen. Damit ging, inoffiziell, auch das Mandat der Intendanten, in Fragen des Kinder- und Jugendtheaters Ansprechpartner des Ministeriums zu sein, auf die AG und somit die Leiter der Sparten über. Als Vermittler der besonderen Aufgaben und Probleme des Kinder- und Jugendtheaters beispielsweise gegenüber Intendanzen und politischen Gremien hat die AG seit Jahren eine große kulturpolitische Bedeutung im Land. Sie mischt sich ein, wenn es um die Gründung neuer Sparten geht – oder darum, in Krisenzeiten bedrohte Theater und Sparten zu sichern. Zu den Aufgaben der AG zählen außerdem, die Belange des Kinder- und Jugendtheaters gegenüber der Öffentlichkeit, den Kulturämtern oder der Presse zu vertreten, sowie die Fortbildung innerhalb der AG. Seit dem Theatertreffen in Heilbronn 1985 haben dank der Finanzierung durch das Land alle Ensemblemitglieder die Möglichkeit, die ganze Zeit anwesend zu sein, gegenseitig die Vorstellungen anzuschauen und sich darüber auszutauschen.
Mitglied in der AG Baden-Württemberg ist seit dem ersten Tag auch das 1973 gegründete Freiburger Kinder- und Jugendtheater e.V., heute Theater im Marienbad. Zu dessen Leitungskollektiv gehörte jahrzehntelang der mittlerweile verstorbene Dieter Kümmel, ein engagierter Vorkämpfer für die Idee der freien Gruppen: als Gegenentwurf zu den hierarchischen Strukturen der Stadt- und Landestheater und zur Förderung alternativer Organisationsformen, die eine hohe künstlerische Freiheit und Verantwortung ermöglichen und fordern.
Ansonsten blieb die Resonanz der Intendanten und Städte im Ländle trotz der vom Land unterstützten Initiative am Beginn der 80er Jahre zunächst gering. Lediglich in Heidelberg kam 1984 unter Leitung von Christian Sorge eine Neugründung zustande: Das später zwinger3 genannte Kinder- und Jugendtheater ist bis heute eine Sparte am Theater der Stadt Heidelberg.
Die nächste Gründung gelang 1989 im Zusammenhang des baden-württembergischen Theatertreffens in Konstanz, bei dem die AG – wie zwei Jahre zuvor (vergeblich) in Ulm – mit einer Vielzahl an Vorstellungen und theaterpädagogischen Aktionen auf die Notwendigkeit von Kinder- und Jugendtheater hingewiesen hatte. Auf der Abschlusskonferenz des Festivals wurde die Gründung des jungen theaters verkündet, mit eigener Spielstätte in einem ehemaligen Lokschuppen. Im gleichen Jahr bezog die 1974 mit einer stark theaterpädagogischen Ausrichtung gegründete Beratungsstelle für Schulspiel in der Landeshauptstadt eigene Räume – und nahm gleichzeitig einen eigenen kleinen Spielbetrieb auf zur Ergänzung der theaterpädagogischen Angebote. Leiter dieses Theaters im Zentrum war zunächst Manfred Raymund Richter.
Das Jahr 1989 markiert zugleich den Beginn einer langen und im Grunde noch immer andauernden Strukturdebatte: Einerseits forderte Jürgen Zielinski für seine Sparte am Landestheater Tübingen (vergeblich) absolute Autonomie, andererseits löste Jürgen Flügge am Beginn seiner Intendanz in Esslingen das Kinder- und Jugendtheater als eigenständige Sparte auf und richtete statt dessen ein integriertes Modell ein: mit eigener Leitung, aber Schauspielern, die sowohl im Abendspielplan als auch im Kinder- und Jugendtheater eingesetzt werden. Das löste eine erbitterte Debatte über Vor- und Nachteile der beiden unterschiedlichen Ansätze aus.
In den 90er Jahren dann gab es an verschiedenen Stadttheatern Bemühungen, meist über ein verstärktes theaterpädagogisches Angebot auch eigenständige Sparten mit einem regulären Spielbetrieb für Kinder und Jugendliche zu etablieren. In Heilbronn und Ulm beispielsweise verliefen diese Initiativen im Sande, in Aalen und zuletzt in Baden-Baden dagegen führten sie zum Erfolg, beide Theater sind bis heute Mitglied der AG.
Lange Diskussionen innerhalb der AG, vor allem aber mit den Kulturpolitikern in Stadt und Land gab es um die Situation in Stuttgart. Seit den 70er Jahren hatte die Stadt beharrlich alle Diskussionen um ein eigenes Kinder- und Jugendtheater verweigert und bedrohte ab 1993 auch den Spielbetrieb des Theaters im Zentrum durch Kürzungen. Erst ab Ende der 90er Jahre, als Dr. Iris Magdowski Kulturbürgermeisterin wurde, konnte die AG mit Unterstützung der Assitej und des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland in Frankfurt ernsthaft über die Möglichkeit eines eigenen Kinder- und Jugendtheaters diskutieren. Das führte zunächst 1998 unter Leitung von Dieter Kümmel zur Begründung des internationalen Festivals „Schöne Aussicht“, das nun alle zwei Jahre gemeinsam mit dem baden-württembergischen Kinder- und Jugendtheatertreffen in Stuttgart stattfindet. Im Jahr 2004 dann wurde in neu gebauten Räumlichkeiten im Kulturareal Unterm Turm, dem früheren Tagblatt-Turm, das Junge Ensemble Stuttgart (JES) unter der Intendanz von Brigitte Dethier gegründet, die heute auch künstlerische Leiterin des Festivals „Schöne Aussicht“ ist.
Ende 2011 öffnete sich die Arbeitsgemeinschaft der Kinder- und Jugendtheater der Landesbühnen und kommunalen Theater Baden-Württembergs für die Mitgliedschaft freier Gruppen und Kleintheater aus Baden-Württemberg und wandelt sich zu diesem Zweck in einen Arbeitskreis mit neuen Statuten.
Dieser Arbeitskreis versteht sich fortan als freie Interessensgemeinschaft, die sich für die künstlerische und strukturelle Weiterentwicklung des Kinder- und Jugendtheaters in Baden-Württemberg engagiert.
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Der Artikel folgt im Wesentlichen einen Beitrag von Manfred Jahnke über 25 Jahre „Modell Baden-Württemberg“, veröffentlicht in Grim & Grips 20, 2006